Der Pädagogische Tag der Wöhlerschule machte deutlich, was Corona in den Schulen anrichtet
Der bunte Aufblas-Ball, der durch die Reihen der Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler in der Aula der Wöhlerschule wanderte, zeigte in aufgemalten Schlagworten die Folgen der Pandemie: anstrengend, mühsam, belastend sei die Corona-Zeit gewesen, vor allem die Phase des Distanzunterrichts. Auch die Schüler Jul Böhle und Friedrich Bahrenberg, die im Wechselgespräch die Ergebnisse einer Umfrage an der Wöhlerschule vortrugen, ließen keinen Zweifel am Ernst der Lage: „viel Hausaufgaben, knappe Abgabefristen, viel Stress“, so lautete ihre Bilanz der Zeit der Schulschließung. „Was wir sehen ist nur die Spitze des Eisbergs“, warnten auch die Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen Sandra Morelli und Anna Turinsky aus Hamburg. Ihr Impulsvortrag eröffnete den Pädagogischen Tag der Wöhlerschule, bei dem sich Kollegium, Eltern- und SchülerInnenvertreter mit den psychosozialen Folgen der Pandemie, aber auch mit den Möglichkeiten des digitalen Lernens und Unterrichtens befassten.
„Alle maskiert, getestet, geimpft, einige sind genesen, bedroht gewesen“, hatte zuvor Florian Cieslik zur Begrüßung „geslamt“ und so versucht, durch seine rhythmische Wortkunst etwas positive Dynamik in die ernsten Diskussionen zu bringen. „Wie geht’s den Stillen, die schweigen und zum Funktionieren neigen?“ – eine Frage, die zeigte, wie unterschiedlich Kinder und Jugendliche von den Folgen der Pandemie betroffen sind. „Auch wir als Lehrkräfte leiden unter den Auswirkungen“, ergänzte Schulleiterin Christa Eller in ihrer Begrüßung und begründete so, warum die Schulleitung trotz dramatisch steigender Infektionszahlen entschieden habe, dass dieser Pädagogische Tag mit Abstands- und Hygieneregeln sowie Impf- und Testzertifikaten „gerade noch verantwortbar ist“.
Bereitschaft zu Aggression hat zugenommen
„Was wir sehen sind Jugendliche, die nicht mehr so frech sind, die Nähe suchen, die in ihrer Entwicklung stagnieren“, berichtete Psychotherapeutin Morelli aus ihrer Praxis. „Und wir sehen Lehrkräfte, die sich in ihrer Haut unwohl fühlen, weil ihnen das zu nah ist, die sich fragen, wie kann ich wieder Distanz herstellen.“ Zugleich schilderte sie eindringlich die Folgen der Pandemie für die Lernenden: „Die Bereitschaft zu offenen Aggressionen unter Kindern und Jugendlichen ist gewachsen, die Gewalt an Schulen hat zugenommen“. Anna Turinsky, die in einer stationären Einrichtung arbeitet, hat eine Zunahme depressiver Störungen beobachtet: „Wir erleben immer häufiger Patientinnen und Patienten mit suizidalen Tendenzen“. Essstörungen, zunehmender riskanter Medienkonsum, Angststörungen, Sozialphobien und das wachsende „Phänomen des Nesthockertums“ sind weitere Begleiterscheinungen von Corona bei Kindern und Jugendlichen. Fehlende echte soziale Kontakte werden durch digitale Kommunikation ersetzt. „Was ich getragen hätte, wenn die Party stattgefunden hätte“, laute beispielsweise eine beliebte Tictoc-Rubrik, wo eigene Videos gepostet würden. „Wir hören häufiger: Ich will nicht 18 werden, ich will nicht raus in die Welt“, so Morelli. „Das sind die Jugendlichen, die in Ihren Klassenräumen sitzen“.
Die beiden Therapeutinnen empfahlen den versammelten Lehrkräften, authentisch zu sein, im Unterricht Raum für Fragen und Antworten zu bieten, „nicht unbedingt gleich Tipps zu geben“. Lehrkräfte seien die stützende und zugleich sanft schubsende „Hand im Rücken der Schülerinnen und Schüler“. Auf die Fragen aus dem Kollegium, wie die Zwänge des Schulsystems, zum Beispiel das Landesabitur, sich mit diesen Folgen der Pandemie vertragen, wünschten sich die Gastrednerinnen, „dass Schule einen temporären, Corona-bedingten, individuellen Nachteilsausgleich gewähren könnte“. Erleichtert hörten die Lehrkräfte das Lob einer Mutter, die von positiven Erfahrungen an der Wöhler berichtete: „Hier habe ich gute Erfahrungen gemacht, die Lehrkräfte sind offen für solche Fragen und den entsprechenden Austausch.“
16 Workshops suchten Auswege
Nach der gemeinsamen Eröffnung in der Aula erkundeten Lehrkräfte, Eltern und Lernende in 16 Workshops unter Anleitungen von Fachleuten und ReferentInnen aus dem Staatlichen Schulamt, der Hessischen Lehrkräfteakademie, aber auch aus dem Kollegium Wege aus dem Dilemma zwischen Hilfe für die Kinder und Jugendlichen und den Erfordernissen des Schulsystems. Der Ganztagscoach der Wöhlerschule, Rüdiger Hein, von Haus aus Psychologe, berichtete beispielsweise über seine Erfahrungen aus unzähligen Beratungsgesprächen in den vergangenen anderthalb Corona-Jahren. „Mein Berufsbild hat sich komplett verändert“, bilanzierte er, „ich kann nicht mehr ausreichend helfen und unterstützen, ich kann nicht zwei Mal die Woche mit 30 Schülerinnen und Schülern Überbrückungsgespräche führen, bis sie endlich einen externen Behandlungsplatz bekommen.“ Die Wartezeiten für Therapien oder stationäre Aufenthalte seien viel zu lang. Dabei warnte er vor einer hohen Dunkelziffer: „Wenn ich eins weiß, dann weiß ich, dass ich von vielen Fällen gar nichts weiß.“
Die Erkenntnisse der beiden Therapeutinnen aus Hamburg konnte er mit konkreten Erfahrungen aus der Wöhlerschule belegen. Bei einem Unterstufenschüler habe es sechs Corona-bedingte Todesfälle in der Familie gegeben, die die Familie nicht bewältigen konnte. Etwa ein Drittel der Kinder in der Unter- und Mittelstufe, so Hein, hätten einen Todesfall in der Familie, der wegen Corona nicht ausreichend verarbeitet werden konnte. Erschöpfung mit Schlaflosigkeit bis hin zum Burn-out, Schulangst („Ich will mich nicht blamieren“), Sozialphobien („Das Virus ist überall“ oder „Ich bin doch für alle nur eine Belastung“), Panikattacken oder Zwangsstörungen („mehrere Kinder haben Waschzwang entwickelt“) seien weitere Diagnosen. „Wir sind gespannt, was nach Corona passiert“, fasste Hein die unsicheren Prognosen für die weitere Entwicklung zusammen. Hein berichtete aber auch Positives: Immerhin stünden durch das „Löwenstark“-Förderprogramm des Landes für ihn und Florian Cieslik jetzt mehr finanzielle Mittel zur Verfügung, um die Förder- und Beratungsangebote in der Schule auszubauen.
Gemeinsamer Abschluss in der Sporthalle
Beim gemeinsamen Abschluss des Pädagogischen Tages am Nachmittag in der Sporthalle – der besondere Dank galt dem Vorbereitungsteam um Franziska Deliry, John-Luke Ingleson und Max Kwasny – stellten die Lehrkräfte auf Socken ein raumgreifendes Evaluations-Barometer auf. Die meisten positionierten sich – in Abstufungen – bei den positiven Markierungen auf dem Hallenboden: ja, der Pädagogische Tag habe geholfen, Wünsche und Bedürfnisse zu konkretisieren; es sei „deutlicher geworden, worauf wir achten müssen im Blick auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung“. Nur bei der Frage, ob die Lehrerinnen und Lehrer mit Corona eher einen Bildungs- oder eher einen Erziehungsauftrag hätten, gab es ein klares Sowohl-als-auch. Die übergroße Mehrheit des Kollegiums stand auf der Nulllinie. „Wir haben immer schon einen Erziehungsauftrag und dann kommt die Bildung ganz von selbst“, brachte es eine Kollegin auf den Punkt. (Rie)(Fotos: Cordula Rudek)